Hl. Symeon der Neue Theologe

Dass niemand sagen soll,
heutzutage sei es unmöglich, heilig zu werden [1]

Quelle:http://www.prodromos-verlag.de/

Christus einst wie jetzt Derselbe

1. Brüder und Väter, viele sagen tagtäglich  −und wir selbst hören, was sie sagen  −: "Lebten wir in den Tagen der Apostel und hätten wie sie die Ehre, Christus in Person zu begegnen, würden auch wir Heilige wie jene" (s. Mt 23,30), denn sie wissen nicht, dass Christus Derselbe ist, Der einst wie jetzt in der ganzen Welt spricht. Wäre Er nicht Derselbe jetzt wie damals, in allem derselbe Gott, sowohl in Seinen Energien als auch in Seinen Werken, wie könnte Er sagen, dass der Vater ewiglich im Sohn Sich zeigt und der Sohn im Vater (s. Joh 10,38 / 14,9ff), wirkend durch den Heiligen Geist: "Mein Vater wirkt immerdar, und auch Ich wirke" (Joh 5,17)?

2.  Doch vielleicht wird einer einwenden: "Es ist nicht dasselbe, Ihn damals im Leibe zu sehen und heute nur Seine Worte zu hören und über Ihn und Sein Reich belehrt zu werden."  Ich aber sage, dass das heutige und das damalige zwar keineswegs dasselbe ist, dass aber das heutige und jetzige  weitaus erhabener und hilfreicher ist zur Vertiefung des Glaubens und der Gewißheit als das leibliche Schauen und Hören des Herrn damals. Denn damals zeigte Er Sich den undankbaren Juden als geringer Mensch, uns heute aber wird Er als wahrer Gott verkündet. Damals verkehrte

Er leiblich unter Zöllnern und Sündern und aß mit diesen (s. Mt 9,11), jetzt aber sitzt Er zur Rechten Gottes des Vaters (s. Mk 16,19), von Dem Er niemals und in keiner Weise je getrennt war, und ernährt die ganze Welt, entsprechend unserem Glauben, und nichts geschieht ohne Ihn, wie wir sagen und auch glauben (s. Joh 1,3).

Damals wurde Er sogar noch von den Geringsten mißachtet, da sie sagten: "Ist dieser nicht der Sohn der Maria und Josephs des Zimmermanns?" (Mk 6,3, Mt 13,55), jetzt aber wird Er von Königen und Fürsten angebetet als Sohn des wahren Gottes und als wahrer Gott, und Er verherr-licht jetzt wie damals diejenigen, die Ihn anbeten in Geist und in Wahrheit (Joh 4,24) –  obwohl Er sie oft auch züchtigt ihrer Sünden wegen –, indem Er sie von irdenen Gefäßen zu eisernen Stäben macht  über alle Völker unter dem Himmel (s. Ps 2,9, Offb 2,27).

Damals wurde Er für einen Menschen wie die anderen gehalten, sterblich und verweslich, und eine große Sache war zu jener Zeit, in jenem menschlichen Leib, in dem der gestaltlose und unsichtbare Gott Gestalt angenommen hatte, ohne irgendeine Veränderung oder einen Wandel zu erleiden, und Sich zeigte als zur Gänze Mensch, ohne irgendetwas sehen zu lassen, das nicht auch die anderen Menschen hatten, sondern indem Er aß, trank, schlief, schwitzte, Sich ermüdete und alles tat, was Menschen tun, außer der Sünde (s. Hebr 4,15) – eine große Sache mithin war damals, Ihn zu erkennen in jenem Leib und an Ihn zu glauben als Gott, Der Himmel und Erde erschaffen hat und alles, was in ihnen ist.

Deshalb auch pries der Meister Petrus selig, als dieser bekannte: "Du bist der Sohn des Lebendigen Gottes!", indem Er sagte: "Selig bist du, Simon bar Jonah, denn nicht Fleisch und Blut haben dir dies offenbart - das nämlich, was er geschaut und bekannt hatte -, sondern Mein Vater, Der in den Himmeln ist" (Mt 16,16-17). Ein Mensch aber, der Ihn heute tagtäglich durch die Heiligen Evangelien mit lauter Stimme sprechen und den Willen Seines gesegneten Vaters verkünden hört und Ihm nicht mit Furcht und Zittern gehorcht und das von Ihm Gebotene hält, der würde sich auch dann, wenn er damals anwesend gewesen wäre und Ihn in Person gesehen und lehren gehört hätte, keineswegs bereitgefunden haben, an Ihn zu glauben. Es ist sogar zu befürchten, dass er in seiner völligen Ungläubigkeit den Herrn als Feind Gottes statt als  wahren Gott betrachtet und Ihn gelästert hätte.

 

Weitere Schwierigkeiten der Frühzeit - unzählige Häresien

4. Das also ist, was die grobschlächtigsten von allen sagen. Und was sagen jene, die etwas ehrfürchtiger sind als sie?  "Hätten wir zur Zeit der heiligen Väter gelebt, würden auch wir gekämpft haben. Denn angesichts ihres guten Lebenswandels und ihrer Kämpfe wären wir angespornt worden zur Nachahmung. Jetzt aber leben wir unter Faulenzern und Nachlässigen und werden mitgerissen von ihnen, und so gehen wir unfreiwillig zugrunde." Auch diesen ist offensichtlich unbewußt, dass weit eher wir es sind, die uns im Hafen befinden, und nicht jene der früheren Zeiten. Hört zu!

Zur Zeit der heiligen Väter gab es viele Häresien, viele Pseudo-Christusse, viele Leute, die mit dem Christentum Handel trieben, viele Lügenapostel und Irrlehrer (s. 2 Petrus 2,1ff, 1 Joh 4,1ff, 2 Joh 7,ff, Jud 10ff, 2 Kor 11,13ff), die unverfroren herumzogen und das Unkraut des Widersachers aussäten. Durch ihre trügerischen Worte führten sie viele in die Irre und stürzten deren Seelen ins Verderben.

5.  Dass dies den Tatsachen entspricht, könnt ihr feststellen, wenn ihr die Leben unserer heiligen Väter Antonios, Euthymios und Sabas lest. So wird berichtet, dass Antonios eines Tages ein besseres Gewand anzog als sonst und sich auf eine Anhöhe stellte, sodass er von allen gesehen wurde, um sich von den Häretikern ergreifen und umbringen zu lassen.[2] Hätte es keine Verfolgung gegeben, würde er solches nicht getan haben. Und steht nicht geschrieben, dass zur Zeit  der Geburt unseres heiligen Vaters Euthymios die Kirchen Gottes von Frohmut [griech. "euthymia"] erfüllt wurden, weil damals die Verfolgungen und Häresien zur Ruhe kamen? [3] Und habt ihr nicht gehört, wie sehr unser heiliger Vater Sabas gegen Ende seines Lebens zu kämpfen hatte gegen die damaligen Häresien und wieviele Mönche sich von den Häretikern mitreißen ließen? [4] Und was zur Zeit des hl. Stephanos des Jüngeren geschah, war das nicht eine schwere und grausame Verfolgung? [5] Oder erinnert ihr euch vielleicht nicht an den damaligen Sturm und die gegen die Mönche entfesselte Gewalt? Doch wozu versuchen, all das der Reihe nach aufzählen? Wenn ich daran denke, was vor diesen Ereignissen geschah, zur Zeit Basilios' des Großen, wie es der große Gregor erzählt,[6] sowie an das, was Johannes dem Goldmund und den nachfolgenden heiligen Vätern widerfuhr, klage ich über mich selbst und bemitleide jene, die auf all das nicht achten. Denn sie sind sich nicht im Klaren darüber, dass die gesamte Vergangenheit weit schlimmer war als die Gegenwart und unbestreitbar erfüllt vom Umkraut des Widersachers (s. Mt 13,38).

 

Die alten Häresien, die die Hl. Väter
kraft der Gnade des Hl. Geistes zum Verschwinden brachten

6. Obwohl das  Vergangene schlimm genug war, gibt es auch heute viele Häretiker, viele Wölfe, Nattern und Vipern, die sich unter uns mischen, allerdings ohne irgendeine Macht zu haben gegen uns. Doch sie sind gewissermaßen wie verborgen in der Nacht ihrer Bosheit, und wer sich zu ihnen gesellt in der Finsternis, den packen sie und verschlingen ihn. Denjenigen aber, die im Licht der göttlichen Schriften wandern und dem Weg der Gebote Gottes folgen, wagen jene Leute nicht einmal gegenüberzutreten, sondern wenn sie sie vorbeigehen sehen, fliehen sie vor ihnen wie vor Feuer.

7. Wen nun glaubt ihr, dass ich hier als Häretiker bezeichne? Vielleicht jene, die den Sohn Gottes verleugnen? Vielleicht jene, die den Heiligen Geist lästern und sagen, Er sei nicht Gott? Vielleicht jene, die behaupten, der Vater sei größer als der Sohn? Vielleicht jene, die die Dreiheit zusammenmischen zu einer Monade oder den einzigen Gott zerteilen in drei Götter? Vielleicht jene, zwar anerkennen, dass Christus der Sohn Gottes ist, aber nicht glauben, dass Er Fleisch annahm aus einer Frau? Vielleicht jene, die dumm schwätzen, Er habe zwar Fleisch angenommen, jedoch ein unbeseeltes? Vielleicht jene, die zwar anerkennen, dass es beseeltes Fleisch war, das heißt ein ganzer Mensch, aber leugnen, dass der Sohn Gottes, Der auch Sohn der Gottgebärerin Maria ist, ein einziger Gott ist der Hypostase nach, und den einzigen Christus zertrennen in zwei Söhne? [7] Oder vielleicht jene, die dem anfanglosen Vater einen Anfang zuschreiben und sagen: "Es gab eine Zeit, wo Er nicht war"? Oder jenen, die zwar die Anfangslosigkeit des Vaters anerkennen, jedoch dem aus dem Vater geborenen Sohn einen Anfang  in der Zeit zuschreiben, als wäre Er ein Geschöpf, und solchen Unsinn nicht nur denken, sondern auch lehren, wo doch klar gesagt wurde, [8] dass der Vater niemals war, ohne dass auch der Sohn war, denn wie könnte man einen Kinderlosen als "Vater" bezeichnen?  Oder vielleicht jene, die verkünden, ein anderer sei es gewesen, der gelitten habe und ein anderer, der auferstanden sei?

Nein, niemanden von diesen Ehrfurchtslosen und Gottlosen meine ich, noch auch die Anhänger anderer Häresien, die sich einst ausbreiteten wie Finsternis, aber von den damals leuchtenden Heiligen Vätern zum Verschwinden gebracht wurden. Denn so sehr strahlte die Gnade des Allheiligen Geistes durch sie und vertrieb die Finsternis der besagten Häresien, dass ihre von Gott inspirierten Schriften bis heute heller leuchten als die Sonne und niemand es wagt, ihnen zu widersprechen.

 

Die neue Häresie - die Behauptung,
keiner vermöge heute die Gebote des Evangeliums zu erfüllen

8. Sondern von denen rede ich und die nenne ich Häretiker, die sagen, es gebe in unserer Zeit und unter uns niemanden mehr, der imstande sei, die evangelischen Gebote zu halten und den Heiligen Vätern gleich zu werden, das heißt zuerst einmal gläubig zu sein und dem Glauben gemäß zu handeln  - denn durch die Werke zeigt sich der Glaube, so wie das Gesicht sich im Spiegel zeigt -, sodann zur höchsten Betrachtung und Gottesschau aufzusteigen, anders gesagt, den Heiligen Geist zu empfangen und durch Ihn den Sohn und den Vater zu schauen. Diejenigen, die solches als unmöglich bezeichnen, sind nicht nur in eine Teilhäresie gefallen, sondern in alle Häresien zusammengenommen, wenn man so sagen kann, denn durch ihre Gottlosigkeit und das Übermaß ihrer Blasphemie übertreffen und überdecken sie jene allesamt.

Wer solches sagt, wirft alle göttlichen Schriften um. "Umsonst wird das Heilige Evangelium heute noch verkündet", scheint mir der Nichtige zu sagen, "umsonst liest man und verbreitetet man die Schriften Basilios' des Großen und unserer anderen Hierarchen und gottgeweihten Väter." Doch wenn das, was Gott sagt und was alle Heiligen zuerst taten und danach auch niederschrieben und uns zur Unterweisung hinterließen, von uns unmöglich in die Tat umgesetzt und ungeschmälert eingehalten werden kann, warum dann haben jene die Mühe auf sich genommen, diese Dinge niederzuschreiben, und warum liest man sie noch heute in den Kirchen?

Die solches sagen, verschließen den Himmel (s. Mt 23,13), den Christus uns geöffnet hat, und blockieren den Aufstieg zu Ihm, den Er Selbst für uns gebahnt hat (Hebr 10,19-20). Während nämlich in der Höhe Gott, Der über allen ist, gleichsam in der offenen Tür des Himmels steht und Sich hinabbeugt und den Gläubigen, die Ihn sehen, durch das Heilige Evangelium zuruft: "Kommt zu Mir alle, die ihr euch müht und beladen seid, und Ich werde euch erquicken!" (Mt 11,28), erklären jene Gottesfeinde oder besser gesagt Antichristen: "Unmöglich ist solches, unmöglich!"

9.  Zu Recht sagt der Meister mit lauter Stimme zu diesen: "Wehe euch Schriftgelehrten und Pharisäern! Wehe euch blinden Führern von Blinden, denn ihr selbst tretet nicht ein ins Reich und diejenigen, die eintreten wollen, hindert ihr daran! (s. Mt 23,13ff, Lk 11,52). Während Er jene, die jetzt trauern, ausdrücklich selig preist (Mt 5,4), erklären jene, es sei unmöglich für irgendwen, jeden Tag zu trauern und zu weinen. O welche Gefühllosigkeit, welch schamloser Mund, der verworfene Reden ausschickt gegen Gott den Allerhöchsten und die Schafe Christi zur Beute  wilder Tiere macht, jene Schafe, für die der Einziggeborene Sohn Gottes Selbst Sein Blut vergossen hat! Wahrlich, zu Recht hat der Gottesahn David über solche prophezeit: "Die Zähne der Menschensöhne sind Waffen und Pfeile, und ihre Zunge ein scharfes Schwert" (Ps 56,5)

 

Die Unerläßlichkeit der Tränen und des Weinens,
und dass diese der menschlichen Natur eingegeben sind

10.  Warum denn, sag mir, wäre es unmöglich? Wie anders strahlten die Heiligen auf Erden und wurden zu Leuchten in der Welt? Wäre es unmöglich, hätten auch sie solches niemals vollbringen können. Denn auch sie waren Menschen wie wir, und sie hatten nichts über das hinaus, was auch wir haben, es sei denn die Neigung zum Guten, Bereitwilligkeit, Geduld, Demut und Liebe zu Gott.

Diese mithin erwirb auch du, und deine jetzige steinige Seele wird dir zur Quelle der Tränen werden. Willst du dich aber nicht betrüben und wehklagen, dann sag zumindest nicht, die Sache sei unmöglich. Denn wer solches sagt, verwirft die Reinigung, ist doch noch nie gehört worden, dass die Seele, die nach ihrer Taufe gesündigt hat, vom Schmutz der Sünde gereinigt werden könne ohne Tränen. Durch die Taufe hat Gott zwar jede Träne weggewischt vom Angesicht der Erde (Offb 7,17 / Is 25,8), indem Er in Fülle Seinen Heiligen Geist ausgoß, doch wie ich aus der Göttlichen Schrift vernommen habe, wurden zur Stunde selbst ihrer Taufe einige von denen, die sich in vorgerücktem Alter taufen ließen, durch das Kommen des Heiligen Geistes innerlich ergriffen, sodass sie Tränen vergossen - nicht bittere und schmerzliche Tränen, sondern Tränen, die kraft der Energie und Gabe des Heiligen Geistes süßer waren als Honig (Ps 18,11) und mühelos und still von ihren Augen flossen.

Jene mithin, die irgendwann der Erfahrung solcher Tränen gewürdigt worden sind, werden diese meine Worte verstehen und sie als wahr bezeugen, so wie es mir auch der Theologe  bezeugt, sagt er doch: "Jeder bringe Gott etwas dar, der eine dieses, der andere jenes", und nachdem er vieles aufgezählt hat, ruft er zum Schluß aus: "Alle aber Tränen, alle die Reinigung, alle den Aufstieg und die Bemühung, sich auszustrecken nach dem, was vor ihnen liegt (s. Phil 3,13)!" [9]

11.  Unterschied er vielleicht oder trennte er hier die einen von den anderen, indem er dies als möglich für die einen und unmöglich für die anderen bezeichnete? Wäre es etwa so, wie ihr unvernünftig behauptet − um euch verdienterweise zu tadeln, die ihr unbeschnitten seid an Herz und Ohren (Apg 7,51) −, dass nämlich einige ein hartes Wesen  empfangen hätten und daher niemals imstand seien, zu bereuen und zu weinen? Ist es etwa das, was der große Gregor sagt? Gott bewahre! Es gibt vielmehr kein einziges menschliches Wesen, das nicht von Natur aus die Fähigkeit zum Weinen und Wehklagen und Trauern besässe, noch auch hat dieser Heilige oder irgendein anderer der Heiligen je solches gesagt oder geschrieben.

Dass uns allen das Weinen von Natur aus zu eigen ist, mögen euch die Neugeborenen lehren. Denn sobald sie aus dem Mutterschoß hervorkommen und auf die Erde fallen, weinen sie, und dies ist für die Hebammen und die Mütter das Zeichen, dass sie leben. Weint das Kind nämlich nicht, wird es nicht als lebendig bezeichnet. Durch ihr Weinen wird  unmittelbar anschaulich, dass Trauer und Tränen von Geburt an zu unserer Natur gehören. Wie auch unser heiliger Vater, Symeon der Studit,[10] sagte, muß der Mensch das gegenwärtige Dasein mit solchem Weinen durchlaufen und mit ihm auch sterben, wenn er gerettet werden und in das selige Leben eingehen will, denn die Träne bei der Geburt weist hin auf die Tränen unseres gegenwärtigen Lebens hienieden. Ebenso unerläßlich wie die Nahrung für den Körper sind die Tränen für die Seele, und wer nicht jeden Tag weint − ich zögere zu sagen: jede Stunde, um nicht bedrückend zu erscheinen −, läßt seine Seele Hungers sterben und verderben.

12.   Da mithin, wie aufgezeigt wurde, das Weinen und die Tränen zur Natur gehören,  soll niemand dieses Gut unserer Natur von sich weisen. Niemand soll sich selbst aus Schlaffheit und Faulheit  diese Gabe vorenthalten, niemand soll aus Bosheit und Schlechtigkeit und Hochmut der Seele zum Aufschneider werden und sich wider seine Natur in ein Abbild des Steins verwandeln. Vielmehr soll jeder, ich bitte euch, dieses große Geschenk unversehrt bewahren in seinem Herzen, indem er sein schönstes Bemühen den Geboten Gottes widmet. Er soll es bewahren durch Schlichtheit und Demut, durch Arglosigkeit der Seele und Einfachheit, durch Geduld in den Prüfungen und ständiges Lesen der Göttlichen Schriften, immerdar bereuend und allezeit der eigenen Verfehlungen gedenkend, und keiner vernachlässige diese Arbeit.

Liegt jedoch einer, weil er die Hoffnung auf seine eigene Rettung verloren hat, auf dem Bett des Nichtstuns, soll er zumindest nicht sagen, dass sie auch für jene unmöglich sei, die sich bemühen. Denn wer solches lehrt, verschließt uns allen das Tor des Reichs der Himmel. Nimm die Tränen weg, und sogleich hast du damit auch die Läuterung weggenommen. Ohne Läuterung aber wird keiner gerettet, wird keiner vom Herrn selig gepriesen werden, wird keiner Gott schauen (s. Mt 5,8).

 

Warnung vor dem kommenden Gericht

13.  Wenn aber dies die Folge ist für jene, die nicht trauern gemäß dem Gebot des Herrn, dann frage ich dich - ist diese Häresie nicht die schlimmste aller Häresien? Denn nach dem, was ihr sagt, erfolgte der Abstieg und Aufstieg Gottes umsonst, ist die Verkündigung der Apostel hinfällig, hinfällig auch die Unterweisung aller Heiligen, die uns immerdar aufrufen zur Trauer. Die ganze von Gott inspirierte Schrift ist, wie ich sehe, unnütz geworden für euch, die ihr so denkt und gesinnt seid. Denn wie die taube Natter verstopft ihr eure Ohren (Ps 57,5), und das Heil eurer Seele erwartet ihr, wie mir scheint, allein vom Mönchsmantel, der Kukulle und dem Schema, einige außerdem von einem langen und ehrwürdigen Bart, glaubt ihr doch, durch diese gut und schmuck zu sein. Doch glaubt vielmehr, dass wir  nackt und bar (Hebr 4,13) − wie es euch die göttliche Schrift täglich mit lauter Stimme verkündet, selbst wenn ihr sie nicht hören mögt − vor dem Richterstuhl Christi stehen werden, damit jeder empfange gemäß dem, was er im Leibe getan hat, sei es zum Guten, sei es zum Bösen (2 Kor 5,10).

14.  Wenn dies über kurz oder lang allen widerfahren wird − wo werden dann die eure Körper bedeckenden und schmückenden Gewänder sein? Wo das prächtige Analav?  Wo die glänzenden und durchscheinenden Umhänge? Wo die schön gefertigten und soliden Sandalen? Wo die Riemen, die Frauengürteln ähneln? Wo die Begegnung mit Fürsten? Wo die Ehre bei den Begrüßungen? Wo die Kämpfe um den Vorsitz? Wo die Üppigkeit der Tafel? Wo - um auch dies zu sagen - die Neigung, dem Bruder zuvorzukommen und die beste und größte Portion des Aufgetischten für sich zu nehmen, woran wir Nichtigen leiden, ich als erster und die mir gleich Gesinnten? Wo werden dann unser Dünkel und unser Hochmut sein, die Lust am Befehlen und Kommandieren? Wo die geräumigen Kellien, prächtig geschmückt wie Brautgemächer? Wo die Bevorzugung von Diakonien und Diakoniten, durch die wir uns den anderen überlegen  wähnen? Wo das unverhaltene und schamlose Lachen? Wo die luxuriösen Abendessen, die ausgedehnten Mittagsmähler mit ihren ungebührlichen Reden? Wo werden dann die großen Namen sein? Wo die Heiligkeit, die wir jetzt oder künftig zu haben glauben? Wo diejenigen, die uns jetzt schmeicheln und täuschen, indem sie uns Heilige nennen und damit den Weg unserer Füße verwirren? Wo die erhöhten Throne und die sich ihretwegen als vortrefflicher als die anderen Erachtenden? Wo das Streben nach Besitz, das Ringen um größere Macht? Wo die Widerrede und Widersetzlichkeit und die Weigerung, in irgendetwas dem Nächsten nachgeordnet zu erscheinen? Wo das Hangen an den Verwandten? Wo der Ruhm der Weltlichen und Fürsten, die uns besuchen, dessentwegen ich mich überhebe und vermeine, ich Elender als erster, dadurch ruhmreicher zu werden als die anderen? Wo die angebliche Einsicht der für ihr weltliches Wissen und ihre Weltweisheit Berühmten (Kol 2,3 / 1 Kor, 1,20ff)? Wo die Anmassung, uns für etwas zu halten, wo wir doch nichts sind (Gal 6,3)? Wo wird dann die wohlberedte Zunge sein und die Rhetorik, die wie aus einer Quelle zu strömen scheint?

Wo ist dann, besser gesagt: wo ist heute ein Weiser, ein Gelehrter, wo ein Wortführer dieses Äons (1 Kor 1,20), damit er vortrete und wir uns zusammen hinsetzen und Rat suchen bezüglich jenes furchtgebietenden Tags und jener furchtgebietenden Stunde,  jeden Stein umwendend, wie man sagt,  in uns selbst und in den göttlichen Schriften und diese genau erforschend, sodass wir von daher belehrt werden und erkennen, was es ist, das uns dann zu nützen vermag, und es mit großer Sorgfalt zu erlangen uns mühen?

 

Das Werk der Metanie

15.  Wahrlich, meine geliebten Brüder, wie die ganze Heilige Schrift  laut und ausdrücklich verkündet, wird große Angst und Zittern in jener Stunde diejenigen ergreifen, die wie ich faul, nachlässig und träge waren. Doch selig ist, Brüder, wer sich jetzt niedriger stellt als alle Kreatur und Tag und Nacht weint vor Gott, denn er wird in jener Stunde zu Seiner Rechten stehen, mit einem prächtigen Gewand angetan (s. Offb 7,9).

Selig wer diese Worte hört und sich nicht mit Wehklagen begnügt, der seine Zeit nicht fruchtlos verstreichen läßt, indem er das Tun von Tag zu Tag verschiebt, sondern, sobald er den Herrn sagen hört: "Kehrt um!" (Mt 4,17), sich sogleich ans Werk macht. Denn ein solcher wird als gehorsamer und dankbarer Knecht  Erbarmen finden und nicht verurteilt werden  mit den Ungehorsamen zusammen. In diesem jetzigen Leben wird er erlöst von allen Leidenschaften und zum bewährten Arbeiter aller Tugenden, und im künftigen Äon wird er sich der unaus-sprechlichen Güter Gottes erfreuen, zusammen mit all denen, die Ihm von Anfang an wohlgefällig gewesen sind.  Möchten wir alle diese Güter erlangen, durch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, Dem die Herrlichkeit gehört in die Ewen der Ewen. Amen.



[1] Dies ist die 29. der insgesamt 34 erhaltenen Katechesen des heiligen Symeon des Neuen Theologen (949-1022, siehe Das Synaxarion am 12. März), gerichtet an die Mönche des Klosters des Hl. Mámas in Konstantinopel, dem er 979-1005 als Higumen vorstand. Griech. Urtext unter dem Titel "Περί του μὴ δεῖν λέγειν ὅτι ἀδύνατον νῦν εἰς ἄκρον ἐλθεῖν ἀρετῆς τὸν βουλόμενον καὶ τοῖς πάλαι ἁμιλληθῆναι ἁγίοις. Καὶ ὅτι πᾶς ὁ τὰ ἐναντία διδάσκων τῶν θείων Γραφῶν νέαν αἵρεσιν τοῖς πειθομένοις αὐτῷ δογματίζει. Καὶ περί δακρύων, ὅτι ἐκ φύσεως ἡμῖν τὰ δάκρυα πρόσεστι" ("Dass man nicht sagen soll, es sei unmöglich heutzutage,  den Gipfel der Tugend zu erklimmen, für einen, der es will, und zu wetteifern mit den Heiligen der alten Zeit. Und dass jeder, der in  Widerspruch zu den göttlichen Schriften solches lehrt, den ihm Glaubenden eine neue Häresie verkündet. Außerdem über die Tränen, dass sie uns von Natur aus zu eigen sind") in EPE-Philokalia Bd. 19Δ'.  Deutsche Übersetzung, unter Berücksichtigung der franz. Fassung in SC113, vom  Kloster des Hl. Johannes des Vorläufers, Chania 2011.

[2] Dies ist erwähnt im Leben des Hl. Antonios (250-356), geschrieben vom hl. Athanasios dem Großen, Patriarch von
   Alexandria, Kap. 46.  

[3] Siehe "Leben des Hl. Euthymios" in: Kyrillos v. Skythopolis, Die hl. Mönchsväter von Palästina", hrsg. Kloster des
   Hl. Johannes d. Vorläufers, Chania 2009, S. 14.
 

[4] Ebenda, "Leben des hl. Sabas", S. 145ff.

[5] Der hl. Stephanos d. Jüngere (715-765, s. Das Synaxarion am 28. November), Asket auf dem Berg des Hl. Auxentios bei Chalkedon, erlitt das Martyrium während der schlimmen Verfolgung durch die Ikonoklasten.

[6] Gemeint ist der hl. Gregor der Theologe und seine Schilderung, in der Grabrede für Basilios d. Großen,  der schlimmen Verfolgung der Kirche durch die Arianer.

[7] Dies ist die Häresie des Nestorios, die Christus in zwei Söhne und zwei Hypostasen zerteilt und die vom 5. Hl. Öku-
   menischen Konzil in Ephesos verurteilt worden ist.

[8] Der hl. Symeon bezieht sich hier auf den hl. Athanasios den Großen in seinen Schriften "Gegen die Arier" sowie auf
  den hl. Gregor den Theologen, z.B. in seiner 3. Theologischen Rede (d.h. Homilie 29), Kap. 17.

[9]  Hl. Gregor der Theologe, Homilie 19 ("An den Steuerkommissar Julianos"), Kap. 7.

[10] Auch Symeon der Fromme genannt, der geistige Vater des hl. Symeon des Neuen Theologen.


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