Hl. Johannes Chrysostomos
 

Rede an Eutropios

Diese erste seiner beiden "Reden an Eutropios" den Eunuchen, Patrizier und Konsul, hielt der hl. Johannes Chrysostomos im Frühjahr 399 in der Kathedrale der Hl. Apostel in Konstantinopel, als der mächtige und tyrannische Politiker, in Ungnade gefallen am Kaiserhof und verfolgt von kaiserlichen Truppen und vom empörten Volk, als letzte Hoffnung das kirchliche Asyl in Anspruch nahm (das er zuvor abgeschafft hatte) und im Heiligtum Zuflucht suchte. Die Kirche füllte sich bald mit solchen, die schwer gelitten hatten unter der unersättlichen Habgier, Macht- und Ruhmsucht des Tyrannen, und sie waren bereit, ihn zu lynchen. Mit seiner Rede gelang es  dem heiligen Johannes, seine Herde vor dieser Sünde zu bewahren und die Herzen zur Reue zu bewegen und zum Mitleid  für den Gestürzten, der sich, notdürftig mit einem Hemd bekleidet, an den Altar klammerte, und so wurde dessen Leben vorerst gerettet. Griech. Urtext in EPE JohChrys Bd. 33. Dt. Übersetzung Kloster Hl. Johannes d. Vorläufers, Chania 2011.

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Die Nichtigkeit aller menschlichen Angelegenheiten

1. Immerdar, doch jetzt im besonderen, ist die Zeit zu sagen: "Nichtigkeit der Nichtigkeiten, Nichtigkeit ist alles" (Ekkl 1,2). Wo ist jetzt das prächtige Gewand des Konsuls? Wo die hellen Fackeln? Wo das Händeklatschen und die Tänze, die fröhlichen Gelage und die Feste? Wo die Kränze und Umhänge? Wo der Applaus der Stadt, die Lobessprüche  in den Hippodromen, die Schmeicheleien der Zuschauer? Verschwunden ist all das. Ein Wind erhob sich plötzlich und riß die Blätter weg und zeigte uns den Baum in seiner Blöße, wankend bis in seine Wurzel hinab. Denn so heftig brauste jener Wind, dass er den Baum beinahe entwurzelt hätte und ihn bis in seine innersten Fasern erschütterte.

Wo sind jetzt die heuchlerischen Freunde? Wo die Symposien und Abendessen? Wo der Schwarm der Parasiten und der starke Wein, der den ganzen Tag lang floß, die vielfältigen Kunstwerke der Köche, wo die Diener der Macht, die alles taten und sagten, um ihr zu gefallen?

Nacht war all das und ein Traum, und als der Tag anbrach, verschwand es. Frühlingsblumen waren diese Dinge, und als der Frühling vorüber war, verwelkten sie. Ein Schatten war es, und er huschte vorüber. Rauch war es, und er löste sich auf.  Seifenblasen waren es, und sie zersprangen. Spinngewebe war es, und es zerriß.

Deshalb wiederholen wir abermals und sagen unaufhörlich jenen geistigen Spruch: "Nichtigkeit der Nichtigkeiten. Nichtigkeit ist alles."  Diesen Spruch sollten wir an die Wände schreiben, auf die Kleider, an die Plätze und die Häuser, auf die Strassen, die Türen und die Eingänge, vor allem aber in das Gewissen eines jeden, und ihn allezeit bedenken. Denn weil der trügerische Schein der Dinge, die Masken und die Heuchelei von den vielen für die Wahrheit gehalten werden, sollte ein jeder jeden Tag, beim Abendessen und beim Mittagessen und bei Zusammenkünften zum Nachbar sagen und vom Nachbarn hören: "Nichtigkeit der Nichtigkeiten, Nichtigkeit ist alles."

 


Die wahren und die falschen Freunde


Sagte ich dir nicht immer wieder, dass der Reichtum ein entlaufener Sklave ist? Doch du hörtest uns nicht an. Sagte ich dir nicht, dass er ein undankbarer Hausgenosse ist. Doch du wolltest dich nicht überzeugen lassen. Nun sieh, aus dem Lauf der Dinge hat sich erwiesen, dass er nicht nur ein entlaufener Sklave ist und nicht nur ein undankbarer Hausgenosse, sondern auch ein Menschenmörder. Denn er ist es, der dich nun soweit gebracht hat, dass du zitterst und um dein Leben fürchtest. Sagte ich dir nicht, als du mich ständig rügtest, weil ich die Wahrheit sagte, dass ich dich mehr liebe als die Schmeichler? Dass ich, der ich dich tadle, mir mehr Sorgen mache um dich als jene, die dir Gefälligkeiten sagen?
 

Und fügte ich diesen Worten nicht bei, dass Verwundungen seitens von Freunden  glaubwürdiger sind als berechnende Küsse von Feinden (Spr 27,6)? Hättest du meine Verwundungen angenommen, würden dir die Küsse jener Leute nicht diesen Tod hier bereitet haben, denn meine Verwundungen verhelfen zur Gesundheit, deren Küsse aber legten den Grund zu unheilbarer Krankheit.
 

Wo sind nun jene, die dir Wein einschenkten? Wo diejenigen, die dir den Weg bahnten auf den öffentlichen Plätzen und allen die Ohren füllten mit Tausenden von Lobpreisungen über dich? Sie sind geflohen, haben die Freundschaft verleugnet und nutzen deine Angst für ihre eigene Sicherheit.
Nicht so aber verhält es sich mit uns, sondern selbst in deinem Unglück wenden wir uns nicht ab von dir, und auch jetzt, wo du gestürzt bist, pflegen und heilen wir dich. Die Kirche, die du bekämpftest, hat ihre Arme geöffnet für dich und dich aufgenommen, die von dir geförderten Theater hingegen, um deretwillen du dich oftmals erzürntest gegen uns, haben dich preisgegeben und verstoßen.  Wir hörten nicht auf, dir zu sagen: "Warum tust du solches? Du wütest gegen die Kirche und bringst dich selbst an den Abgrund." Doch du schlugst all das in den Wind. Und nachdem die Hippodrome deinen ganzen Reichtum verschlungen hatten, wetzten sie das Schwert gegen dich, während die Kirche, die deinen unangebrachten Zorn gekostet hatte, sich allenthalben bemüht, dich aus den Fangnetzen des Todes zu retten.

 

Eine Lehre und Warnung für die anderen
 

2. All das sage ich nicht, um den am Boden Liegenden mit Füssen zu treten, sondern um jene zu stärken, die noch aufrecht stehen. Nicht um die Geschwüre des Kranken zu schürfen, sondern um jene bei Gesundheit zu erhalten, die noch nicht befallen sind. Nicht um den von den Wogen Herumgeworfenen zu ertränken, sondern um jene zu ermahnen, die unter günstigen Winden segeln, damit nicht auch sie untergehen.

Und wie wird das erreicht? Indem wir uns die Wechselhaftigkeit der menschlichen Angelegenheiten vor Augen halten. Denn auch dieser hier, hätte er den Wechsel gefürchtet, würde denselben nicht erlitten haben. Doch während er sich weder von sich aus bessern wollte, noch auch auf die Vorhaltungen anderer hin, zieht wenigstens ihr, die ihr euch brüstet mit eurem Reichtum, eine Lehre aus seinem Unglück, denn nichts ist zerbrechlicher als die menschlichen Dinge. Mit welchem Namen man ihre Bedeutungslosigkeit auch benennen mag, er bleibt doch weit hinter der Wahrheit zurück. Nenne man sie Rauch oder Gras oder Traum oder schnell dahinwelkende Frühlingsblumen oder was immer -  hinfällig sind sie ganz und gar und nichtiger als das Nichtseiende. Dass ihnen aber nebst der Nichtigkeit auch große Gefahr innewohnt, das hat sich jetzt hier gezeigt.

Wer stieg höher auf als dieser? Übertraf er nicht die ganze Welt an Reichtum? Erklomm er  nicht die Gipfel der öffentlichen Würden?  Zitterten nicht alle vor ihm in Furcht? Doch seht, er ist elender geworden als jene, die im Gefängnis sitzen, bedauernswerter als die Sklaven und ärmer als die vom Hunger verzehrten Bettler, denn jeden Tag sieht er gezückte Schwerter vor sich, den Abgrund und Scharfrichter und das Abgeführtwerden zum Tod. Und er weiß nicht mehr, ob er je all jene Freuden genossen hat, ja nicht einmal den Sonnenstrahl nimmt er mehr wahr, sondern am hellen Mittag sind seine Augen wie erblindet, als wäre er umgeben von der finstersten Nacht.

Doch wie sehr wir uns auch bemühen, es ist uns nicht möglich, mit Worten die Drangsal zu schildern, die dieser hier natürlicherweise erduldet, da er zu jeder Stunde erwartet, niedergemetzelt zu werden. Doch was bedarf es der Worte, wo doch er selbst uns all das wie in einem Bild vor Augen führt? Denn am gestrigen Tag, als man vom Kaiserpalast her zu ihm sandte, um ihn mit Gewalt wegzuschleppen, und er hierher flüchtete zu den heiligen Gerätschaften, da war sein Gesicht so wie auch jetzt nicht anders als das eines Toten. Seine Zähne schlugen aneinander, er zitterte am ganzen Leib, seine Stimme war gebrochen, die Zunge stammelte. Sein ganzes Aussehen ist so, wie es seiner versteinerten Seele entspricht.

 

 

Aufruf zum Erbarmen.
Die Macht und Menschenfreundlichkeit der Kirche

3. Dies sage ich, nicht etwa um ihn zu schmähen oder um mich zu weiden an seinem Unglück, sondern weil ich euer Herz zu erweichen und euch zum Erbarmen bewegen möchte, damit ihr euch zufriedengebt mit der Bestrafung, die er bereits erlitten hat. Denn es gibt unter uns viele Unmenschen, die soweit gehen, gleicherweise auch uns anzuklagen, weil wir ihn im Heiligtum empfangen haben. Um deren Hartherzigkeit zu erweichen, breite ich mit meinen Worten  seine Leiden vor euch aus.

Weshalb ärgerst du dich, sag mir, Geliebter? "Weil",  so antwortest du, "jener Zuflucht gesucht hat bei der Kirche, gegen die er unaufhörlich Krieg führte." Dafür aber sollten wir weit eher Gott verherrlichen, weil Er diesen in solche Not geraten ließ, dass er sowohl die Macht als auch die Menschenfreundlichkeit der Kirche erkennen mußte. Ihre Macht einerseits, da er auf Grund seines Kriegs gegen sie einen solchen Wechsel erlitt, und ihre Menschenfreundlichkeit andererseits, weil sie, obwohl sie bekämpft worden war von ihm, jetzt ihren Schild ausgestreckt und ihn unter ihre Flügel genommen hat und ihn in aller Sicherheit bewahrt, ohne ihm irgendetwas vom Vorhergehenden nachzutragen, sondern indem sie ihm ihre Arme öffnet mit großer Zärtlichkeit.

Dies ist in der Tat weit prächtiger als jede Trophäe, ein Sieg, der weithin sichtbar glänzt. Es beschämt die Heiden und bringt die Juden zum Erröten. Hell läßt es das Gesicht der Kirche aufstrahlen. Sie nimmt ihren Gegner auf, der zum Gefangenen geworden ist, und erbarmt  sich seiner, und während alle ihn im Stiche lassen, verbirgt sie ihn wie eine zärtliche Mutter unter ihren Schössen und stellt sich dem kaiserlichen Zorn entgegen, der Wut des Volkes, dem mörderischen Haß. Dies ist der Schmuck des Altars.
 

Doch du sagst: "Was für ein Schmuck ist das, wenn der Schuldbeladene, der Habgierige und Plünderer den Altar berührt?" Sag nicht solches. Denn auch die Dirne berührte die Füße Christi, sie, die in solchem Masse schuldbeladen und unrein war. Und was sie tat, galt Jesus nicht als Verbrechen, sondern fand Seine Bewunderung und großen Lobpreis (Lk 7,36ff). Denn die Unreine fügte dem Reinen keinen Schaden zu, vielmehr machte der Reine und Untadelige durch diese Berührung die schuldbeladene Dirne rein.
 

Deshalb trag nicht das Böse nach, o Mensch! Wir sind Diener Dessen, Der gekreuzigt wurde und sagte: "Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Lk 23,34). "Aber jener sperrte die Zuflucht zum Heiligtum durch verschiedene Dekrete und Gesetze", erwiderst du. Doch siehe, durch die Erfahrung hat er nun begriffen, was er getan hatte, und als erster hat er das Gesetz aufgehoben durch seine Tat und ist zum Schauspiel geworden für die ganze Welt. Im Schweigen ruft er von hier aus allen warnend zu: "Tut nicht, was ich tat, damit euch nicht widerfahre, was mir widerfuhr."

So ist er denn zum Lehrer geworden durch das Unglück, und großer Glanz geht aus vom Altar, jetzt noch furchtgebietender sogar durch diese Ereignisse, das heißt dadurch, dass er den Löwen gefesselt hält. Denn auch dem Bild des Kaisers gereicht nicht nur zum Schmuck, wenn der Herrscher in seinem Purpurmantel und mit dem Diadem auf dem Haupt auf seinem Thron sitzt, sondern auch, wenn unter seinem Fuß Barbaren liegen, die Hände auf den Rücken gebunden und den Kopf gesenkt.

 

Gelegenheit zur heilsamen Einsicht für alle

Dass ich nicht übertreibe in dem, was ich sage, dafür seid ihr selbst Zeugen, die ihr in solcher Zahl herbeigeeilt seid. Glänzend ist in der Tat unsere Zuhörerschaft heute und prächtig die Versammlung, und ebenso viele von euch, wie ich am Heiligen Pascha versammelt sah, sehe ich hier auch heute. Im Schweigen hat er euch alle gerufen, mit der Stimme der Ereignisse, die lauter schallen als jede Trompete. Die Jungfrauen verliessen ihre Kammern, die Damen ihre Salons, die Männer die Agorá  - alle habt ihr euch hier einefunden,  um mit euren eigenen Augen zu sehen, wie die menschliche Natur ihren Tadel empfangen hat, wie die Hinfälligkeit der irdischen Angelegenheiten bloßgelegt worden und das Dirnengesicht, das bis gestern glücklich lächelte - solcherart nämlich ist das Glück, das aus der Habgier stammt, häßlicher als das Runzelgesicht einer alten Frau -, durch die Wende der Dinge wie mit einem Schwamm saubergewaschen worden ist von jeder Schminke und Bemalung.
 

4.  Solcherart mithin ist die Kraft dieses Unglücks. Den brillantesten und berühmtesten von allen zeigt es nun als den geringsten vor.

Tritt ein Reicher hier ein, empfängt er großen Gewinn, denn wenn er sieht, aus welcher Höhe jener abgestürzt ist, der die ganze Ökumene [1] erzittern ließ, wie scheu er geworden ist, ängstlicher als Hase und Frosch, und sich, ohne dass er gefesselt wäre, an diese Säule klammert, gekettet allein durch die Angst, die ihn Zittern und Beben macht - wenn er dies alles sieht, legt er der Überhebung Zügel an, rückt ab von der Aufgeblasenheit, und indem er nachsinnt über die menschlichen Angelegenheiten, so wie sich darüber nachzusinnen ziemt, wird er von dannen gehen in der Erkenntnis dessen, was die Heiligen Schriften mit Worten sagen und was die Ereignisse vor Augen führen, nämlich: Alles Fleisch ist wie Gras, und aller menschliche Ruhm ist wie die Blüte von Gras. Das Gras verdorrte, und die Blüte fiel ab (Is 40,6-7), und: Wie Gras werden sie bald verdorren und wie grüne Blätter bald abfallen  (Ps 36,2), denn wie Rauch zerlösten sich seine Tage (Ps 101,4).
 

Der Bettler wiederum, wenn er hier eintritt und diesen Anblick gewahrt, wird sich selbst nicht länger verachten, noch auch sich betrüben über seine Armut, sondern die Bedürftigkeit als Geschenk empfinden, ist sie ihm doch zum Zufluchtsort geworden, zum sturmfreien Hafen und schützenden Wall. Und beim Anblick der Dinge hier wird er viele Male vorziehen, in seinem Zustand zu bleiben, als für eine kurze Weile alles zu empfangen, um danach sogar noch um sein Leben fürchten zu müssen.

Siehst du nun, dass die Flucht dieses Mannes hierher nicht geringen Gewinn gebracht hat sowohl für Reiche als auch für Arme, für Niedrige ebenso wie für Hochgestellte, für Sklaven ebenso wie für Freie?  Siehst du, wie ein jeder, wenn er weggeht von hier, Heilmittel empfangen haben und geheilt worden sein wird durch seinen bloßen Anblick? 

Habe ich nun eure Aufregung besänftigt und euren Zorn vertrieben? Habe ich die Unmenschlichkeit gelöscht? Habe ich euch zum Mitgefühl geführt? Was mich betrifft, so bin ich fest überzeugt davon, denn eure Gesichter und die strömenden Tränen zeigen es.
 

Da nun euer steinernes Herz zu tiefem Erdreich und fruchtbarem Boden geworden ist, kommt und laßt uns auch die Frucht der Barmherzigkeit  hervorbringen und die volle Ähre des Mitgefühls vorweisen und niederfallen vor dem Kaiser, besser gesagt: laßt uns den menschenliebenden Gott bitten, Er möge den Zorn des Kaisers mildern und sein Herz erweichen, damit er zur Gänze gewähre, worum wir bitten.  

Denn schon von dem Tag an, wo dieser Mann  hierher flüchtete, haben sich die Dinge in nicht geringem Maß gewandelt. Als nämlich der Kaiser vernahm, dass er an diesem unverletzbaren [2] Ort hier Zuflucht genommen hatte vor dem Militär, das aufgebracht über seine Untaten angerückt war und ihn abzuschlachten verlangte, hielt er eine lange Rede, um den Zorn der Soldaten zu zügeln, indem er sie aufforderte, nicht nur an die Sünden des Mannes zu denken, sondern auch an etwaige gute Taten, die er vollbracht haben mochte, und sich damit  dankbar zu zeigen für dieselben, ihm für die schlechten aber als einem Menschen zu vergeben. Doch da die Soldaten darauf beharrten, die dem Kaiser zugefügte Beleidigung zu rächen, und schrieen und sprangen und ihre Lanzen schwangen, indem sie den Tod des Schuldigen verlangten, da ließ er Ströme von Tränen aus seinen sanften Augen fließen und erinnerte sie an die Heiligkeit des Altars, bei dem jener Zuflucht gesucht hatte, und bändigte so ihren Zorn.

5. Doch steuern auch wir das unsere bei. Denn welche Vergebung würdet ihr verdienen, wenn der Kaiser, der beleidigt wurde, das Böse nicht nachträgt, ihr aber, die ihr nichts solches erlitten habt, bei eurem Zorn bleiben würdet?  Und wie könntet ihr, nachdem diese Versammlung geendet hat, die Heiligen Mysterien berühren und jenes Gebet sagen, mit welchem wir dem Gebot gemäß bitten: "Vergib uns, so wie auch wir vergeben unseren Schuldigern" (s. Mt 6,12), wenn ihr fordert, dass euer Schuldiger bestraft werde?

Er hat großes Unrecht begangen und beleidigt? Wir bestreiten es nicht. Doch jetzt ist nicht die Zeit für Gericht, sondern für Erbarmen. Nicht für Rechenschaft, sondern für Menschenfreundlichkeit. Nicht für Untersuchungen, sondern für Vergebung. Nicht für Verdikt und Bestrafung, sondern für Mitleid und Gnade. Niemand erhitze sich, niemand sei ärgerlich, legen wir vielmehr Fürbitte ein beim menschenliebenden Gott, damit Er hinzufüge zu seinem Leben und ihn der angedrohten Abschlachtung entreiße, damit er seine Sünden ablege. Gehen wir alle zusammen zum menschenfreundlichen Kaiser und bitten wir ihn, um der Kirche und um des Altars willen dem Heiligen Tisch einen Menschen zu schenken.

Tun wir dies, wird auch der Kaiser es annehmen, und noch vor dem Kaiser wird Gott Selbst es loben und uns die Menschenfreundlichkeit reichlich vergelten. Denn so sehr wie Er Sich abwendet vom Hartherzigen und Unmenschlichen und diesen haßt, so sehr nähert Er Sich dem Barmherzigen und Menschenfreundlichen und liebt ihn. Ist dieser ein Gerechter, flicht Er ihm einen umso prächtigeren Kranz. Ist er ein Sünder, sieht Er hinweg über seine Sünden und vergilt ihm so sein Mitgefühl für den Mitknecht. Sagt Er doch: "Erbarmen will Ich und nicht Opfer" (Os 6,6). Und überall in den Heiligen Schriften siehst du, dass Er immerzu dieses verlangt und es als das Mittel zur Befreiung von den Sünden bezeichnet.

So werden auch wir Ihn gnädig stimmen gegen uns. So werden auch wir Befreiung erlangen von unseren Sünden. So werden wir die Kirche schmücken. So wird auch der menschenfreundliche Kaiser uns loben, wie ich schon sagte, und das ganze Volk wird uns Beifall zollen, und die Enden der Ökumene werden die Menschenfreundlichkeit und Milde unserer Stadt  bewundern. Und überall auf der Erde wird man uns preisen, wenn die Menschen es vernehmen.

Damit wir in den Genuß so vieler guter Dinge kommen, laßt uns niederfallen, bitten und flehen, laßt uns den Gefangenen, den Flüchtling, den Schutzsuchenden der Gefahr entreißen, damit wir auch die künftigen Güter erlangen möchten, durch die Gnade und Menschenliebe unseres Herrn, Jesus Christus, Dem die Herrlichkeit und die Herrschaft gehört, jetzt und immerdar und in die Ewen der Ewen. Amen.


[1]Mit "Ökumene" (wörtl. "besiedeltes Land") ist in jener Zeit  (4. Jh.) das Kaiserreich gemeint.

[2] gr. άσυλον, wovon sich das Wort "Asyl" ableitet.


Quelle: http://www.prodromos-verlag.de/



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